Die Flucht von Ostpreußen nach Mecklenburg

Von Manfred Morwinsky [28]

Von der Flucht ist zu sagen, dass es eine rein deutsche Angelegenheit war. Zwar wurde sie durch das Näherrücken der Roten Armee ausgelöst, aber die Deutschen waren unter sich. Was auf der Flucht geschah, ist von den Deutschen zu verantworten.

Das begann schon mit dem Zeitpunkt der Flucht. Hätte die deutsche Führung die Flucht früher zugelassen, Frauen mit Kleinkindern und alte Leute schon Weihnachten 1944 in den Westen geschickt, wäre das Unglück in Grenzen geblieben. Die Hinhaltetaktik der Führung hat die Leiden der Zivilbevölkerung erheblich vergrößert. Oft blieb die Flucht bis zum letzten Augenblick verboten, nicht wenige Trecks zogen entgegen dem ausdrücklichen Verbot der Behörden los. Verzögerungstaktik führte dazu, dass die Flucht in den tiefsten Winter fiel.

Wir können uns heute kaum vorstellen, was es für die sesshafte Bevölkerung des Ostens bedeutet hat, auf die Flucht zu gehen. Viele dieser Menschen kannten nur den eigenen Ort und die Kreisstadt, sie brachten es nicht über sich, einfach in die Eisenbahn zu steigen und davonzufahren. Für die Bewohner der Provinz Ostpreußen wirkte sich zusätzlich die Erfahrung des Jahres 1914 verhängnisvoll aus. Damals waren die Zarenarmeen von deutschen Truppen aus Ostpreußen hinausgedrängt worden. An die Erinnerung der nur vorübergehende Russenzeit von 1914 klammerten sich viele im eisigen Winter 1945.

Kein Mensch flieht freiwillig aus seiner Heimat, das sind Erinnerungen, die wir als unsichtbares Gepäck mit auf die Flucht nahmen. In Stadt und Land, in denen wir geboren wurden, wo unsere Wurzeln liegen, werden wir nicht zurückkehren können. Aber wir können und werden darüber reden. Wir müssen anfangen, unseren Kindern die Geschichte ihrer Vorfahren zu erzählen. Viel zu lange haben wir, die wir als Kinder zu den Flüchtlingen oder Vertriebenen gehörten, über das selbst erlittene Leid geschwiegen oder nur in Andeutungen geredet. Unter dem Urteil der Welt, in eigener Sache gefälligst den Mund zu halten, hatten vor allem jene, die den Krieg zwar überlebt, dafür aber ihre Heimat, ihren Besitz, Familienmitglieder, Freunde und Bekannte verloren hatten, zu leiden. Für viele war das Kriegsende 1945 mit Befreiung von Zwang und Unterdrückung verbunden. Für andere stand der Verlust der Heimat durch Flucht und Vertreibung und neues Leid im Vordergrund. Reinhold Griese hat in der Raducle, Juli 2014, Ausgabe 19, einen Bericht über die Familie Morwinsky veröffentlicht.

Neuanfang in Reddelich, Kreis Rostock

Die vielen Menschen, die aus dem Osten in das zerstörte Restdeutschland strömten, waren keine willkommenen Gäste. Sie wurden als Bedrohung empfunden, weil sie Verständnis und materielle Hilfe einforderten. Den Menschen, die in ihrer Heimat hatten bleiben können, war nicht klar, was es hieß, alles verloren zu haben. Warum seid ihr geflohen? Ihr hättet auf euren Höfen und in euren Häusern bleiben können, bis der Krieg zu Ende ist. Solche Sätze wurden gelegentlich laut gesprochen und noch häufiger gedacht. Natürlich ist es auch zu verstehen, dass es für die Bewohner eines Ortes nicht einfach ist, wenn sich die Einwohnerzahl plötzlich verdoppelt und lauter Fremde da sind.

Die Aufnahme und Verteilung der Vertriebenen anhand der Volkszählungen 1946- 1970 ergibt, dass der Bevölkerungsanteil der Vertriebenen 1946 in Mecklenburg 42,2 Prozent, also 909.200 Personen betrug (aus: Die Vertriebenen, Propyläen 2001). Daraus leiteten sich viele Probleme ab, wie z. B. bei der Wohnraumzuweisung. Noch im August 1949 verfügten Umsiedler, wie Flüchtlinge in der DDR genannt wurden, nur über 5,2 m² Wohnraum, Einheimische hingegen über 10,2 m² (aus: Fremde Heimat, Schicksal der Vertriebenen nach 1945). Die Wohnraumkapazität war auch in Reddelich zu gering. Wohnraum für die neuen Nachbarn rückten viele Einheimische oft nur per amtlicher Beschlagnahme heraus. Die Familie Brinkmann vom Hof 6, musste sechs Parteien aufnehmen mit insgesamt neunzehn Personen.

1945 erhielt auch unsere Familie mit acht Personen bei Familie Duve ein Zimmer und den Schankraum zum Saal, der durch eine Bretterwand abgeteilt war, sowie Küchenbenutzung eine Treppe tiefer. Nachdem Familienzuwachs kam, wurde uns 1948 eine Zweizimmerwohnung bei Paul Völker zugewiesen. Die Küchenbenutzung mussten wir uns mit Familie Emdon, ein Ehepaar aus Ostpreußen, teilen. Als unsere Oma aus Jena dazu kam, zog Familie Emdon zu Otto Westphal und uns wurde das dritte Zimmer zugewiesen.

Aus den Erinnerungen und mit Unterstützung mehrerer Reddelicher Bürger habe ich die Quartieranweisungen der Flüchtlinge zu den Hausbesitzern aufgezeichnet. Sie sind in die Ortschronik eingearbeitet worden.

Reddelich, im Jahr 2017