1946: Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule

Bereits im Mai 1946 regulierte die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern das Schulwesen per Gesetz. Nachfolgend die Abschrift des Textes aus dem Artikel:

Volkshochschulen eröffnet

Schwerin, 27. Mai. Am gestrigen Sonntag wurden in Schwerin und in Rostock in feierlicher Form die Volkshochschulen eröffnet. Damit ist ein sehnlicher Wunsch vieler Werktätiger in Erfüllung gegangen. Die Volkshochschulen, die in der vorhitlerischen Zeit vielen Tausenden von Werktätigen ein umfangreiches Wissen vermittelt hatten, wurden vom faschistischen Regime beseitigt. Der Faschismus konnte keine Einrichtungen gebrauchen, in denen eine wirkliche Kulturarbeit geleistet wurde. Das gesamte Schul-und Bildungswesen war auf die ideologische Vorbereitung zum Raubkrieg ausgerichtet, und in diesem System konnte eine Volkshochschule keinen Platz finden.

Das neue demokratische Deutschland, das ein freundschaftliches Zusammenarbeiten mit allen Völkern erstrebt, gibt den Volkshochschulen die breiteste Entfaltungsmöglichkeit. Das Programm der Volkshochschulen in Schwerin und Rostock enthält Kurse und Einzelvorträge aus allen Wissensgebieten.
Am Donnerstag voriger Woche fand in den Räumen der Landesverwaltung im Beisein des Landespräsidenten, der Vizepräsidenten, des Ministerialdirektors Manthey, der Vertreter der antifaschistischen Parteien, der Lehrerschaft< und der Sowjetischen Militär-Administration der feierliche Akt der Unterzeichnung des neuen Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule statt.

Vor der Unterzeichnung sprach Landespräsident Höcker einige Worte Uber die Bedeutung dieses ersten Gesetzes für Mecklenburg – Vorpommern. Bisher seien nur Verordnungen erlassen worden, und es sei allen eine besondere Freude, daß das erste Gesetz gerade die Demokratisierung der deutschen Schule behandele. Wir seien einem Ziel nahegekommen, für das Viele jahrelang gekämpft hätten. Auch in der Weimarer Republik sei es nicht gelungen, ein solches Gesetz zu erwirken. Für unser ganzes Volk und besonders für unsere Jugend stelle das neue Gesetz einen ungeheuren Fortschritt dar. Möge es unserem Volk und unserem Lande zum Segen gereichen. Präsident Höcker unterzeichnete dann als erster das neue Gesetz, nach ihm die Vizepräsidenten.

Vizepräsident Grünberg nahm sodann Wort und führte aus, daß das soeben unterzeichnete Gesetz das Resultat einer unermüdlichen Arbeit darstelle. Nicht nur hervorragende Schulmänner und Pädagogen hätten ihren Anteil daran, sondern auch die Vertreter der drei demokratischen Parteien hätten ernsthaft geholfen. Der Grundstein zur neuen deutschen Schule sei gelegt. Diese neue Schule so rasch wie möglich Wirklichkeit werden zu lassen, erfordere die Mithilfe aller Kräfte.

Nachdem noch Ministerialdirektor Manthey, sich an die Vertreter der Parteien wendend, zum Ausdruck brachte, daß alle Arbeit zum Aufbau der neuen Schule unfruchtbar sei, wenn sie nicht von dem Vertrauen der Oeffentlichkeit getragen würde, fand der feierliche Akt seinen Abschluß.

Am heutigen Montagnachrnittag um 15:00 Uhr wurde das Gesetz in einer feierlichen Veranstaltung offiziell verkündet.

Vizepräsident Grünberg zum neuen Schulgesetz

Der Kampf um eine neue demokratische fortschrittliche deutsche Schule ist ein Kampf, der seit Jahrzehnten von den fortgeschrittensten Kräften des deutschen Volkes geführt wurde. Zweifellos gelang es vor Hitler, einige Erfolge zu erringen. Aber die Tatsache, daß die dunkle faschistische Reaktion über die Volksmassen siegen konnte, zeigt an sich schon, daß auch in der früheren Schule nicht alles in Ordnung war. Auch früher gelang es nicht, solche standhaften, demokratischen Kämpfer zu erziehen, die dem Faschismus hätten Halt gebieten können.

Die faschistische Reaktion brachte maßloses Unheil und Elend über das deutsche Volk. Durch den Faschismus und seinen verbrecherischen Krieg erlebten wir die größte Katastrophe des deutschen Volkes. Aber noch viel maßloser als auf dem Gebiete der Wirtschaft und der Politik ist das Unheil, welches in der Seele der deutschen Jugend und darüber hinaus des ganzen deutschen Volkes angerichtet wurde. Eine sofortige gründliche Aenderung des gesamten öffentlichen Bildungswesens wurde unverzüglich notwendig. Dies sahen alle fortschrittlich denkenden Kräfte des deutschen Volkes und begannen daran zu arbeiten.

Seit dem Zusammenbruch des Faschismus verging ein Jahr aufopferungsvollster Arbeit für die Schaffung einer neuen demokratischen Schule. Alle Kräfte des Volkes, sowohl Pädagogen als auch die breitesten Volksschichten, Jugend, Frauen, der Block der antifaschistischen Parteien, alle waren daran beteiligt, den Grundstein für eine neue demokratische Schule zu legen. In diesem Jahr gelang es, die Schule von allem faschistischen Unrat zu säubern. Tausende neuer demokratischer Lehrer traten nach kurzer Ausbildung in den Schuldienst. Neue fortschrittliche Lehrprogramme und Lehrpläne, welche ein höheres Bildungsniveau ermöglichen sollen, wurden geschaffen. Neue Lehrbücher sind bereits herausgegeben worden bis zum Beginn des neuen Schuljahres werden weitere 7 Millionen und bis zum 1. Januar 1947 weitere 8 Millionen gedruckt, so daß insgesamt im neuen Schuljahr in den deutschen Schulen innerhalb der sowjetischen Besatzungszone 30 Millionen neuer Schulbücher in Gebrauch kommen werden.

Die Errungenschaften des ersten Jahres demokratischen Aufbaues auf dem Gebiete des Schulwesens sind nun gesetzlich verankert und gleichzeitig die Zielsetzung des weiteren Aufbaues gegeben. Das neue Schulgesetz ist Markstein und Ansporn zugleich für den weiteren Kampf.

Gottfried Grünberg

Die deutsche Schule war trotz ihrer beachtlichen Bildungshöhe vor 1933 nie eine Stätte wirklich demokratischer Erziehung der Jugend zu Verantwortungs- und selbstbewußten freien Bürgern. Sie war eine Standesschule. Für die Söhne und Töchter des einfachen Volkes waren die Tore der höheren Schule und der Hochschule in der Regel verschlossen, weil nicht die Fähigkeit der. Kinder, sondern die Vermögenslage der Eltern über deren Bildungsgang bestimmte.

Bereits früher mißbraucht als Mittel der Vergötterung selbst beschränkter reaktionärer Fürsten und Könige, zur Verherrlichung des Militarismus und Eroberungskrieges, zur Erziehung blinder Untertanen in einem reaktionären Staat, wurde sie unter dem Nazismus zu einer Stätte des Rassenhasses und der Völkerverhetzung, der Vorbereitung unserer Jugend zum Werkzeug in einem volksfremden, antinationalen Eroberungskrieg und der Mißachtung der Menschen und der Menschlichkeit.

Der Aufbau eines neuen friedlichen demokratischen Deutschland — der einzige Weg zur nationalen Wiedergeburt und Einheit unserer Heimat — erfordert eine grundlegende Demokratisierung der deutschen Schule. Die neue demokratische Schule muß frei sein von allen Elementen des Militarismus, des Imperia-Jismus, der Völkerverhetzung und des Rassenhasses. Sie muß so aufgebaut sein, daß sie allen Jugendlichen, Mädchen und Jungen, Stadt- und Landkindern, ohne Unterschied des Vermögens ihrer Eltern das gleiche Recht auf Bildung und seine Verwirklichung entsprechend ihren Anlagen und Fähigkeiten garantiert.

§1
Ziel und Aufgaben der deutschen Schule

Die deutsche demokratische Schule soll die Jugend zu selbständig denkenden und verantwortungsbewußt handelnden Menschen erziehen, die fähig und bereit sind, sich voll in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes zu stellen. Als Mittlerin der Kultur hat sie die Aufgabe, die Jugend frei von nazistischen und militaristischen Auffassungen im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen. Sie wird, ausgehend von den gesellschaftlichen Bedürfnissen, jedem Kind und Jugendlichen ohne Unterschied des Besitzes, des Glaubens oder seiner Abstammung die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende vollwertige Ausbildung geben.

§2
Schulträger und Schulform

Die schulische Erziehung der Jugend ist ausschließlich Angelegenheit des Staates.

Der Religionsunterricht ist Angelegenheit der Religionsgemeinschaften; das Nähere wird durch Ausführungsbestimmungen geregelt.

Die Form des öffentlichen Erziehungswesens ist ein für Jungen und Mädchen gleiches, organisch gegliedertes, demokratisches Schulsystem — die demokratische Einheitsschule.

§3
Aufbau und Gliederung der demokratischen Einheitsschule

Die demokratische Einheitsschule umfaßt die gesamte Erziehung vom Kindergarten bis zur Hochschule und gliedert sich nach den Aufgaben, die aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen erwachsen.Sie baut sich nach folgenden Grundsätzen auf:

  1. Vorstufe (Kindergarten): Der Kindergarten gilt als vorschulische Erziehungseinrichtung. Er hat die Aufgabe, die Kinder zur Schulreife zu führen.
  2. Grundstufe (Grundschule): Bei vorhandener Schulreife treten alle Kinder, die drei Monate vor Beginn des Schuljahres das 6. Lebensjahr vollendet haben, in die Grundschule ein.
  3. Die Grundschule ist obligatorisch. Sie umfaßt 8 Klassen, in denen Deutsch, Geschichte, Heimatkunde, Geographie, Biologie, Physik, Chemie, Mathematik, Fremdsprachen, Kunst- und Werkunterricht, Musik und Leibesübungen unterrichtet werden. Im 5. Schuljahr beginnt für alle Schüler der Unterricht in einer modernen Fremdsprache. Im 7. und 8. Schuljahr werden überall zusätzlich Kurse eingerichtet, vor allem in einer zweiten Fremdsprache, in Mathematik und in naturwissenschaftlichen Fächern. Um den Landkindern die gleiche Bildungsmöglichkeit wie den Kindern in der Stadt zu geben, werden die nicht vollstufigen Schulen ausgebaut, sowie Zentralschulen und Schülerheime eingerichtet.
  4. Oberstufe: Nach Beendigung der Grundschule erfolgt die systematische Weiterbildung in der Berufsschule und Fachschule, in der Oberschule und in anderen Bildungseinrichtungen (Abendschulen, Kurse an Volkshochschulen u. a.)
  5. Die Berufsschule umfaßt drei Jahre; sie ist obligatorisch für alle Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren, welche die Grundschule beendet haben und keine andere Schule besuchen. Die Berufsschule baut sich auf der Grundschule auf und gibt den im Arbeitsprozeß stehenden Jugendlichen die Möglichkeit, neben einer berufstheoretischen Ausbildung seine Allgemeinbildung zu erweitern.
  6. Die Fachschulen führen den Unterricht der Berufsschulen systematisch weiter. ln ihnen erhalten die Besucher neben der Ausbildung in den dem Beruf dienenden Fächern eine Bildung, die derjenigen gleichwertig ist, die auf der Oberschule vermittelt wird. Der erfolgreiche Besuch einer Fachschule ermöglicht die Aufnahme in eine Hochschule.
  7. Die Oberschule umfaßt vier Jahre. Sie vermittelt Wissen und entwickelt Fähigkeiten, die den Besuch der Hochschule ermöglichen. In der Oberschule werden neben dem für alle Schüler verbindlichen Kernunterricht, ausgehend von den Erfordernissen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens und der hochschulmäßigen Weiterbildung, Kurse eingerichtet, welche die Differenzierung, die im 7. Jahr der Grundschule begann, systematisch fortsetzen.
  8. Durch ein breites Netz von Bildungseinrichtungen (Abendschulen, Sonderkurse bei den Volkshochschulen u. a.) ist den Angehörigen aller Schichten des Volkes die Möglichkeit zu geben, auch ohne Unterbrechung der Berufstätigkeit die zum Studium an einer Hochschule erforderlichen Kenntnisse zu erwerben.
  9. Hochschule (Universität): Darüber ergeht ein besonderes Gesetz.

§4

Der gesamte Unterricht wird auf allen Stufen nach Lehrplänen erteilt, welche die Systematik und Wissenschaftlichkeit des Unterrichts gewährleisten und von der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Zone zu genehmigen sind.

§ 5
Schulgeld und Erziehungsbeihilfen

Der Unterricht in der Grundschule und der dreijährigen Berufsschule ist unentgeltlich.

Kindern minderbemittelter Eltern wird die weitere Bildung in der Oberschule und Hochschule durch Schulgeldfreiheit, durch Stipendien, Beihilfen und andere Maßnahmen ermöglicht.

§ 6
Schulverwaltung und Schulaufsicht

  1. Die Leitung und Aufsicht über alle Arten von Schulen und Erziehungsanstalten (Kindergärten, Kinderheime, Sonderschulen für Blinde, Taube, Körperbehinderte, Schwererziehbare u. a.) wird nach Richtlinien der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone durch den Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern — Abt. Kultur und Volksbildung — aus geübt.
  2. Im Aufträge und nach den Weisungen des Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern — Abt. Kultur und Volksbildung —über die Volksbildungsämter der Kreise oder den kreisfreien Städte die Leitung und Aufsicht des Schulwesens aus. Ihnen unterstehen alle Erziehungsanstalten ihres Gebietes außer der Universitäten und Hochschulen, die der Abteilung Kultur und Volksbildung des Landes Mecklenburg-Vorpommern unmittelbar unter stellt sind.
  3. Die Verantwortung für die einzelne Schule trägt deren Leiter. Er wird vom Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern — Abt Kultur und Volksbildung — ernannt. Die Lehrerkonferenz ist beratende Organ des Leiters. Sie soll in allen wesentlichen Entscheidungen über äußere und innen Schulangelegenheiten gehört werden.
  4. In den Jahren des Neuaufbaues der Einheitsschule werden zur Unterstützung der Schulbehörden Vertreter der demokratischen Parteien und Qrganisationen im weitesten Umfange herangezogen.
  5. Um die Verbindungen der Schule mit der Elternschaft zu fördern, werden an den einzelner Schulen Ausschüsse der Eltern ge bildet, die der Schulleitung in allen wichtiger Fragen beratend zur Seite stehen.
  6. Bis zur endgültigen Regelung der Teilnahme von Schülern an der Gestaltung des Schullebens soll Vertretern der demokratischer Jugendorganisationen Gelegenheit gegeben werden, gemeinsam mit den Elternausschüssen beratend im Schulleben mitzuwirken.

§ 7
Lehrerausbildung

Die Lehrerausbildung wird entsprechend der grundsätzlichen Forderungen dieses Gesetzes neu geregelt. Darüber ergeht ein besonderes Gesetz Der Präsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

Artikel aktualisiert am 22.03.2024