von Reinhold Griese, 2013
Von Beginn an steuerte die Hitlerdiktatur auf einen Eroberungskrieg in Europa zu. Die Rüstungsindustrie wurde forciert. Schwerpunkt war der Aufbau einer schlagkräftigen Luftwaffe. Dazu dienten die Heinkelwerke in Rostock, wo mein Vater 1934 nach langer Arbeitslosigkeit Arbeit bekam. Es gab viele Reddelicher, die bei Heinkel tätig waren. Mein Vater arbeitete in der Produktion der H 111, ein Bombenflugzeug, das viel Leid über die Menschen in der spanischen Stadt Guernica (1937), in Warschau (1939), Rotterdam (1940), Coventry (1940) und anderen Städten und Gegenden während des II. Weltkrieges in Europa brachte.
Während des Krieges nahm ich mit meinen Eltern an einem Kinderfest bei Heinkel teil. Dort gab es Kletterstangen, an denen sich Kränze aus Laub befanden. An denen hingen spärliche Gegenstände, die mein Interesse weckten. Im Beisein von Vaters Meister habe ich dann eine Stange mit viel Mühe erklommen. Mit der Bemerkung: »Ich nehme das!« habe ich mich dann einer Papierrolle bemächtigt. Diese Rolle entpuppte sich als Ausschneidebogen zum Bau eines Modells einer H 111. Diese haben meine Eltern und ich an vielen Abenden gebastelt. Aus Ermangelung von Leim wurde Mehlpampe als Klebstoff benutzt. Seit dem hing das Papiermodell der H 111 unter unserer Lampe im Wohnzimmer.
Weiterhin waren Kriegsübungen im Frieden an der Tagesordnung. So auch im Jahre 1937. Am 26. September fuhren Hitler und sein Verbündeter, der italienische Ministerpräsident und Duce Benito Mussolini, mit einem Sonderzug durch Reddelich auf dem Weg zur Flakartillerieschule nach Rerik-Wustrow. Viele Reddelicher standen freiwillig oder hinbeordert am Bahnhof und begrüßten die beiden mit ihrem Anhang. Ich, im Alter von 10 Monaten, war auf dem Arm meiner Mutter auch dabei. Der Bauer Albert Frahm meinte ganz trocken, Hitler habe nicht einmal den blonden Jungen als stolzen Nachwuchs begrüßt. Nachwuchs für den Krieg? Ich bin heute froh, dass ich nicht mehr das Alter erreichte, um noch, wie viele Jungen, Soldat zu werden.
Im Jahre 1937 kämpfte die Legion Condor aus Deutschland im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Franco-Faschisten zur Beseitigung der Republik. Am 26. April zerstörte die deutsche Luftwaffe die baskische Stadt Guernica. Beteiligt daran war aus Reddelich Jochen Schleef als Flugzeugfunker.
Im Frühjahr des Jahres 1940 wurde Norwegen von der Deutschen Wehrmacht niedergekämpft. Diese Invasion wurde in Norddeutschland vorbereitet. Truppen müssen auch im Glashäger Wald gelagert haben. Das schließe ich aus der Einquartierung eines Unteroffiziers bei uns. Ich war neugierig und begleitete ihn eines Morgens auf dem Weg nach Glashagen. Auf der Höhe der Bauernstelle Frahm/Kruth schickte er mich nach Hause zurück.
Ende April 1942 wurde in drei Nächten Rostock bombardiert. Ich stand mit anderen beim Spritzenhaus, und wir beobachteten begeistert, wie Flugzeuge durch einen Lichtkegel von Flakscheinwerfern erfasst und beschossen wurden. Erst später konnte ich bei Besuchen von Verwandten das zerstörte Rostock bedrückend in Augenschein nehmen.
Am 25. Juli 1943, als die Westalliierten Sizilien besetzen, entließ der italienische König Viktor Emanuel III. den faschistischen Diktator Mussolini. Er wurde interniert. Am 12. September wurde er von einer deutschen Fallschirmspringereinheit befreit und zu Hitler ins Deutsche Reich gebracht. Dieses Ereignis wurde als Heldentat in einem propagandistischen Laienspiel von Mitgliedern der Hitlerjugend (HJ) im Saal von Fernows Gaststätte aufgeführt.
Während des Krieges gab es viele Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter in Reddelich, die vor allem in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Es waren in der Mehrzahl Serben und Polen. Die Gefangenen waren in der Büdnerei № 7 (Kreuzkirche genannt) an der linken Seite und in dem Anbau an dem Haus von Karl Dreyer untergebracht. Den Deutschen war ein engerer Kontakt mit ihnen streng verboten. Bei Bäcker Möller war es anfangs üblich, dass die Gefangenen mit den Deutschen gemeinsam das Essen einnahmen bis das angezeigt und verboten wurde.
Es war am Sonntag. dem 20. Februar 1944. Ich war Schlittschuhlaufen. Es dämmerte schon, als wir von weiten in Richtung Osten einen hellen Feuerschein sahen. Es war ein Bombenangriff auf Rostock. Mein Vater hatte sich einen Lötkolben ausgeliehen, um Zinkeimer zu reparieren. Neue gab es ja im Krieg nicht. Als Vater am Montag von der Arbeit nach Hause kam, berichtete er von einem Angriff auf das Heinkelwerk. Er sagte, dass der Lötkolben das Einzige wäre, was von seiner Produktionshalle übrig geblieben war.
Wir hatten ein großes Rundfunkgerät der Marke Blaupunkt. Ich kann mich noch an die wöchentliche Sendung "Hans Fritsche spricht" oder "Hier spricht Fritsche" erinnern. Er war der Mann von Propagandaminister Goebbels beim sogenannten Großdeutschen Rundfunk. Zum Ende des Krieges brachte er keine Siegesmeldungen mehr wie am Anfang des Krieges sondern Durchhalteparolen und sprach über angebliche Wunderwaffen, die den Sieg bringen würden. Im Gedächtnis sind mir noch die Meldungen über die Versenkung von feindlichen Schiffen mit Angaben über die Vernichtung von Bruttoregistertonnen. Womit ich nichts anfangen konnte. Zu bestimmten Zeiten wurde bei uns ein verbotener feindlicher Sender abgehört, der Meldungen über die wirkliche Lage im Kriegsgeschehen brachte. Das konnte ich an den Pausenzeichen erkennen. Der englische Sender BBC brachte als Pausenzeichen ein Motiv aus der Beethov’schen 5. Symphonie, der Schicksalssymphonie und das Morsezeichen für V (wie victory – Sieg). Ich habe das immer noch im Ohr. Auch die Erkennungsmelodie für die Wehrmachtsberichte aus "Les Pre’ludes" von Franz Liszt.
In der Umgebung von Reddelich wurden auch mehrere amerikanische Flugzeuge abgeschossen. Es wurde auch bekannt, dass in Steffenshagen zwei Amerikaner der Lynchjustiz zum Opfer vielen. Ich beobachtete auch, wie ein Pilot von einem Polizisten abgeführt wurde. Eine Frau aus Reddelich schlug mit einem Knüppel auf den Piloten ein, was der Polizist zu verhindern suchte. Dazu war er nach der Genfer Konvention verpflichtet.
Während des Krieges wurde als allgemeine Begrüßung der Hitlergruß gefordert. Ich kann mich daran erinnern, dass das von den meisten nicht erfolgte. Ich drückte mich davor, den Lehrer Mahn zu begegnen, weil der von uns verlangte mit "Heil Hitler" zu grüßen.
Ende des Krieges wurden in Reddelich Splittergräben ausgehoben und Erdbunker errichtet. Ende April 1945 hielt ein LKW bei Fernow. Es wurden Panzerfäuste entladen, die im Saal eingelagert wurden. Ich sollte auch Panzerfäuste schleppen, was viel zu schwer war. So war ich schnell verschwunden. Es wäre Wahnsinn gewesen, wenn Reddelich noch verteidigt worden wäre, was glücklicherweise nicht geschah.
Zur selben Zeit hatten wir eine Einquartierung von Blitzmädchen. Das waren Wehrmachtshelferinnen für den Funkdienst. Ihre Bezeichnung rührte von einem Blitzzeichen auf ihrer Uniform her. Sie hinterließen uns ein Rundfunkgerät der Marke Telefunken. Dieses Gerät und unser Blaupunkt wurden später von der sowjetischen Armee kassiert.
Am 2. Mai 1945 um die Mittagszeit war der Krieg für Reddelich vorbei. Ich selbst stand an der Chaussee hinter der Kastanie und beobachtete den Marsch der Panzer der Roten Armee. Ich erinnere mich, dass es ganz still im Dorf war. Keiner war weit und breit zu sehen. Die Häuser hatten weiße Tücher als Zeichen der Kapitulation herausgehängt. Das hatte Überwindung gekostet, weil die Hitlerpropaganda über das Verbot einer Kapitulation noch in den Köpfen der Menschen schwirrte.
Ich möchte die Ausführungen nicht beenden ohne daran zu erinnern, dass viele Männer – auch mein Vater – den Tod im Krieg fanden. Wir können nur begrüßen, dass es ein Verdienst der Europäischen Union ist, dass es über 70 Jahre keinen europaweiten Krieg mehr gegeben hat.
Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands besiegelte am 8. Mai 1945 das Ende des II. Weltkrieges. Als am 2. Mai die faschistische Wehrmacht in Berlin kapitulierte, donnerte eine endlose Panzerkolonne auf der F 105 durch Reddelich in Richtung Wismar, um sich dort mit der englischen Armee zu treffen. Die Häuser waren mit weißen Tüchern der Kapitulation und später mit roten Fahnen der Arbeiterbewegung geflaggt. Angst und Schrecken vor der russischen Fremdherrschaft grassierte unter der Bevölkerung, aber auch ein befreiendes Gefühl machte sich unter den Menschen breit. Häufig hörte man den Spruch: »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, der aus der Zeit der Befreiungskriege gegen das napoleonische Joch stammte. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass es kein verlorener Krieg für Deutschland war sondern eine Befreiung vom Hitlerfaschismus, von Chauvinismus und Rassismus sowie eine Chance für einen Neubeginn.
Über 60 Millionen Menschen an Toten fielen dem Krieg zum Opfer. Nie wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen, das ist unser Vermächtnis.