Meine Schulzeit in Reddelich

Ein Artikel aus der Reddelicher Dorfzeitung Raducle, Ausgabe 13 (2011), von Bernd Lahl

Nach meinen Erinnerungen begann der Schulunterricht etwa am 1. Oktober 1945 wieder. Viele Kinder hatten durch die Flucht und anschließende Wirrungen Jahre des Unterrichts versäumt. Es war schon eine bunte Truppe, die der Dorfschulmeister Mahn in der einklassigen Schule in Reddelich unter seine Fittiche nahm. Zuckertüte und Einschulungsfeier entfielen.

Die ersten Schritte

Ich gehörte zu den wenigen Schulanfängern, die eine Schiefertafel hatten, wenn auch eine Ecke fehlte. Sogar einen Tornister, heute sagt man Ranzen, hatte die Familie aufgetrieben. Geschrieben wurde auf allen möglichen Papieren, Favorit war der innere Zeitungsrand der Zeitung Tägliche Rundschau. Hefte, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Not machte auch hier erfinderisch. Es ging sofort richtig los. Erste Buchstaben mussten geübt werden, natürlich in Sütterlin, der so genannten Deutschen Schrift. Wenn es nicht ordentlich war, gab es was hinter die Löffel. Für Lehrer war diese Zeit eine ungeheure Herausforderung. Der einzige Klassenraum war überfüllt, alle acht Schuljahre mussten frontal gemeinsam unterrichtet werden. Disziplin sollte ja auch noch aufrechterhalten werden.

Nach einigen Wochen gab es einen Wechsel. Wohl aus Alters- und Gesundheitsgründen gab es einen neuen Schulleiter, sein Name: Harald Schadow. Jetzt wurde auch die Schreibschrift gewechselt. Es wurden die allseits bekannten Lateinbuchstaben verwendet. Inzwischen gab es auch die Schulspeisung. In einer Pause am späten Vormittag wurde auf dem Schulhof ein Brei ausgegeben, nach einiger Zeit wurde die Versorgung jedoch wieder eingestellt. Der Hunger war in Reddelich nicht so ausgeprägt, wie in Städten.
Die Trennung zwischen den ersten vier Klassen von den Klassen 5 bis 8 erfolgte 1947. Dazu richtete man einen Klassenraum auf der Hofseite ein. Natürlich war eine zweite Lehrkraft notwendig, das war Fräulein Scherpelz aus Bad Doberan.

Eine notwendige Einfügung

Früher waren Lehrerinnen immer Fräuleins. Manche alt und verbittert, andere jung und liebenswürdig, immer aber ledig. Dieses Bild, heute noch in zahlreichen alten Spielfilmen anzusehen, hat sich eingeprägt, und es hat einen realen Hintergrund. Kaum zu glauben, aber amtlich: Ursache für das Fräulein-Schicksal des weiblichen Lehrkörpers in Deutschland war das Lehrerinnen-Zölibat, 1880 im Deutschen Reich per Ministererlass eingeführt. Es untersagte Lehrerinnen zu heiraten. Auf eine Missachtung folgte grundsätzlich die Kündigung aus dem Dienstverhältnis. Ein Leben lang berufstätig zu sein, entsprach nicht der bürgerlichen Frauenrolle. Man war der Überzeugung, dass die Frau ihre Rolle in der Familie zu spielen habe. Einer Doppelbelastung standzuhalten, traute man Frauen nicht zu. Gleichzeitig wurde das Lehrerinnen-Zölibat auch mit religiösen Werten symbolisch aufgeladen. Die langjährige Vorsitzende des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen, Maria Johanna Schmitz, formulierte das so: »Die Lehrerin soll den Lehrberuf auch als Lebensberuf sehen, sich ihm für immer weihen, und sie kann das um so mehr, wenn sie in der katholischen Kirche steht, die ihr in der Lehre von der gottgeweihten Jungfräulichkeit einen herrlichen Fingerzeig, ja eine Verklärung für diese Ganzheitsaufgabe des Berufes gibt.«

Das Lehrerinnen-Zölibat wurde im August 1919 mit der Weimarer Verfassung (Artikel 128 II) auf Antrag der SPD abgeschafft, im Oktober 1923 aus arbeitsmarktpolitischen Gründen wieder eingeführt, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Stellen für Männer zu sichern. Bestand Lehrermangel – der betraf spätestens ab der Jahrhundertwende das gesamte Reichsgebiet – konnten auch verheiratete Lehrerinnen provisorisch weiterbeschäftigt werden. Bestand dagegen ein Überangebot, erlaubte die Personalabbauverordnung die Entlassung verheirateter Beamtinnen. Die Zölibatsklausel galt bis ins Jahr 1957, in Niedersachsen bis 1960 (auf DDR-Gebiet bis 1945), dann wurde sie vom Bundesarbeitsgericht für ungültig erklärt.

Die zweite Halbzeit

Das Schulbild (heute sagt man Klassenfoto) von 1948, im Artikel: Die Geschichte der Reddelicher Schule, zeigt die Klassen 5 bis 8 im Herbst, die gemeinsam unterrichtet wurden. 1949 musste der Schulleiter Schadow wegen eines Katers, dem er durch Schüler ein Lebensende verordnete, Reddelich verlassen. Der neue Schulleiter war danach Frithjof Fensch, ein dynamisch wirkender und sehr kluger Mann. Er hatte im Krieg seinen rechten Arm verloren, spielte Akkordeon, das er verkehrt herum hielt und war auch sonst sehr geschickt. Mit seinem Wissen beeindruckte er uns. Neu war eine weitere Trennung in jeweils zwei Klassen. Für die 7. und 8. Klasse wurde im Obergeschoss, im Giebel ein Klassenraum eingerichtet. Für die mittleren Klassen kam Fräulein Kück aus Bad Doberan.

Jeder Lehrer hatte alle Fächer zu unterrichten, da musste der Lehrstoff bei dem inzwischen allgemein üblichen Mehrstufenunterricht schon gut geplant und vorbereitet sein. Für den obligatorischen Russischunterricht kamen gelegentlich Lehrer von außerhalb. Im Prinzip fand er nicht statt, zumal die Sprache allgemein abgelehnt wurde. Der Unterricht war nicht besonders ideologisch geprägt, die Lehrer taten sich mit persönlicher Überzeugung für die neue Gesellschaftsordnung auch schwer. Eine politische Losung an der Wand war Pflicht. Eine Pionierorganisation (gegründet im Dezember 1948) gab es zu der Zeit in Reddelich nur formal, gemerkt haben wir davon nichts.

Es gab eine Episode, da mussten die Lehrer uns Schülern klarmachen, dass der Kartoffelkäfer über unserem Territorium von amerikanischen Sabotageflugzeugen abgeworfen wurde. Herr Fensch, der Pilot im Krieg war, meinte einmal beiläufig, dass sie dann tot zur Erde gefallen sein müssten. Wir Schüler mussten aber Kartoffelkäfer, deren Gelege und Larven auf den Feldern suchen. Für einen Fund waren 10 Mark ausgelobt, tatsächlich fand eine Mitschülerin einen Käfer und wurde belohnt. Im Folgejahr sollte es 1 Mark geben, die Zahl der Käfer war größer. Einige Schüler suchten sich so ein gutes Taschengeld zusammen. Ich leider nicht. (…)

Damals gab es in den Dörfern den Trend seine Kinder in einer Stadtschule anzumelden. So verließen auch einige Reddelicher unsere Schule. 1952 mussten wir, wie alle Schüler damals, eine schriftliche Abschlussprüfung für Klasse 8 überstehen. Dafür mussten wir nach Bad Doberan. Viele erwarteten das große Versagen der Dorfschüler. Das blieb jedoch aus, denn die Schlechtesten aus unserer Schule landeten dort im Mittelfeld.

Für mich war die Schulzeit in Reddelich damit nach sieben Jahren und der absolvierten acht Klassenstufen beendet. Ich durfte die 2. Klasse versuchsweise überspringen. Grund war nicht große Klugheit, ich wollte einfach so gut sein, wie meine älteren Spielkameraden. Der Ehrgeiz trieb mich. Von nun an war ich immer der Jüngste. Es hört sich gut an, mit gerade siebzehn Jahren das Abitur bestanden zu haben und mit zwanzig als Fachlehrer vor Schülern der 10. Klasse zu stehen. Liebe Eltern, über die Nachteile eines absoluten Jahrgangsjüngsten möchte ich mich hier nicht äußern – sie sind gewaltig! Lassen Sie Ihren Kindern Zeit, im Zweifelsfall sprechen wir mal miteinander.

Einen Sachverhalt muss ich unbedingt noch anbringen: Herr Fensch hatte eine kleine Abschlussfeier organisiert. Jede Schülerin und jeder Schüler wurden persönlich von ihm und von jüngeren Schülern […] verabschiedet. Für mich war das unvergesslich, ich habe es später so ähnlich für meine Schüler übernommen.

Bernd Lahl [37], Reddelich 2011