Slawenzeit

Vom 7. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts besiedelten Slawen, die von den Deutschen Wenden genannt wurden, unser Land. Bis zum Fulgenbach siedelten die Stämme der Obodriten. Weiter östlich lebten die Wilzen (Kessiner). Es kann davon ausgegangen werden, dass Raducle (das Dorf des Frohen, des Bereiten) zu dieser Zeit schon bestand. Es gehörte zum wendischen (obodritischen) Burgbezirk von Ilow (Bukow).

Bodenfunde an zwei Stellen auf der Gemarkung von Reddelich zeugen von der slawischen Besiedlung zumindest schon im 10. und 11. Jahrhundert. Ein Handelsweg führte offensichtlich über Bukow, Kröpelin, Reddelich, Stülow, Doberan, Parkentin nach Wilsen und Rostock. Die Dörfer, die im Jahre 1171 zu der Schenkung Pribislaws an das Doberaner Kloster gehörten, liegen fast alle an diesem Handelsweg.

Wie lebten die Slawen in Raducle?

von Reinhold Griese

Es gehört viel Fantasie dazu, um sich das vorzustellen. Wie unsere Vorfahren siedelten, ist aus dem heutigen Ortsbild noch ablesbar, denn die Grundform ist erhalten geblieben. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Reddelich aus einem slawischen Rundweiler hervorgegangen ist. Die Gehöfte waren um einen ovalen Platz angeordnet. Sie lagen erhöht nahe der Niederung mit dem Bachlauf, den wir heute als Molkereibach bezeichnen . Der Bach war, wie andere Gewässer, Bäume oder Haine, bei den Slawen ein heiliger Kultort.
Rundlingsdörfer hatten in der Regel nur eine Zuwegung. Bei Raducle könnte es ein durch den Ort führender Weg von Stulue (Stülow) nach Boianeviz (Jennewitz) gewesen sein. Schon zur Zeit der Slawen war dies die nördliche Handelsroute durch unser Land. Sie ist als späterer Hanseatenweg bekannt.

Jede Ortschaft gehörte zu einem Burgbezirk. Für die Bewohner von Raducle war Ilow, bei Neubukow, die Fluchtburg, die ihnen Schutz bei kriegerischen Auseinandersetzungen bot. Auf der Burg saß ein slawischer Adliger, der mit seiner Gefolgschaft von den Abgaben und Diensten der Dörfer der umliegenden Gegend, so auch von Raducle, lebte.

Chronisten über die Lebensweise der Slawen
Chronisten jener Zeit haben Geschichtliches über die Slawen aufgeschrieben. Ich möchte hier auf die Lebensweise unserer Vorfahren eingehen, wie sie in Raducle eine Rolle gespielt haben könnte. Adam von Bremen (etwa 1050-1085) schreibt in seiner hamburgischen Kirchengeschichte über die Slawen: »Im übrigen aber dürfte man kein Volk finden, das in Bezug auf Sittlichkeit und Gastfreiheit ehrenwerter und gutherziger wäre«.
Ein weiterer Chronist war Ibrahim ibn Jakub, ein Jude in arabischen Diensten. Er bereiste einige von Slawen besiedelte Gebiete. Offensichtlich gelangte er bis zur Ostsee in die Nähe von Wismar. Er berichtet im Jahre 973 folgendes über die Slawen: Bei den Slawen würden nicht einzelne Machthaber regieren, sondern die Ältesten seien die Herrscher. Wörtlich schreibt er:

Die Kornpreise sind dort niedrig, und das Land ist reich an Pferden, sodass davon nach anderen Ländern ausgeführt wird. Die Bewohner sind gut bewaffnet mit Panzern, Helmen und Schwertern. Die von ihnen bewohnten Länder sind die fruchtbarsten und reichsten von allen, und sie legen sich mit Eifer auf den Ackerbau und andere Zweige von Betriebsamkeit, worin sie alle nordischen Völker übertreffen. In dem ganzen Norden ist Hungersnot nicht die Folge vom Ausbleiben des Regens und von anhaltender Dürre, sondern vom Überfluss von Regen und von anhaltend hohem Wasserstande. Regenmangel gilt bei ihnen nicht für schädlich, indem sie der Feuchtigkeit des Bodens und der großen Kälte halber deswegen keine Sorge hegen. Dasjenige, was sie am meisten anbauen, ist Hirse. Die Kälte ist bei ihnen der Gesundheit zuträglich, wenn sie auch heftig ist, die Wärme dagegen schädlich. Sie haben zwei Seuchen, von welchem keiner verschont bleibt (vermutlich Hautkrankheiten, Ausschlag und Geschwüre). Sie vermeiden den Genuss junger Hühner; aber essen Rindfleisch und Gänsefleisch, und dies bekommt ihnen gut. Sie tragen weite Kleider, aber die Ärmel sind unten eng. Ihre vornehmsten Fruchtbäume sind Apfel -, Birn- und Pflaumenbäume. Es gibt dort einen Vogel mit grünem Schimmer, der alle Töne von Menschen und Tieren nachahmen kann. Man fängt ihn (vermutlich der Star). Ferner ist da ein Feldhuhn. Das Fleisch desselben schmeckt vortrefflich. Es lässt sein Balzen aus den Wipfeln der Bäume auf (große) Entfernung hören (vermutlich der Auerhahn). Ihr Wein und kräftiger Trank wird aus Honig bereitet.

Ibrahim ibn Jakub berichtet über Blasinstrumente, die zwei Ellen lang sind und über Saiteninstrumente mit acht Saiten. Die Dorfgemeinde war anfangs demokratisch organisiert. Das Ackerland war Gemeineigentum und wurde gemeinsam bewirtschaftet. Den Bauern gehörten das Haus und der Garten in Privatbesitz. Die Erbfolge von Vater auf Sohn oder auf nächste Verwandte war gewohnheitsmässig üblich. Der Feldbau war nicht ertragreich, denn nur leichte Böden konnten mit dem hölzernen Pflug (Haken) bearbeitet werden. Stallviehhaltung gab es bei den Slawen nur selten. Das Vieh war ganzjährig draussen.

Die frühere demokratische Gemeindeverfassung änderte sich mit der Vormacht der Dorfältesten zu einem aristokratischen Regiment. Im 12. Jahrhundert hatte sich ein slawischer Adel herausgebildet. Die Bauern waren ihm hörig. Gesprochen haben die Obotriten die polabische Sprache. Die Polaben waren ein slawischer Volksstamm, der südlich von Hamburg an der Elbe siedelte (übersetzt: po=an und Laba=Elbe). Eine polabische Schriftsprache hat es nie gegeben. Erst kurz vor ihrem Aussterben haben sich Forscher wie Gottfried Wilhelm Leibnitz mit der Sprache beschäftigt. Ein Gewährsmann von Leibnitz hat ein Wörterverzeichnis und die polabische Fassung des Vaterunsers – Aita nos – verfasst. Mitte des 15. Jahrhundert starb die slawische Sprache aus. Es bildeten sich die Familiennamen.

Bei den Slawen bildeten sich allmählich das Priestertum und heilige Stätten mit überregionaler Bedeutung heraus. In Raducle wurde offensichtlich vor allem dem Sonnenkult gehuldigt und die Gottheit Radegast verehrt. Der Tempel namens Rethra war mehreren Göttern, vor allem aber dem Hauptgott Radegast geweiht. Umgeben war das Dorf mit einem Flechtzaun oder eine Hecke. Die Tiere wurden zum Schutz nachts oder bei Gefahr in die Mitte der Siedlung getrieben. Die Unterkünfte der Bewohner waren Flechtwand- und Blockhäuser. Sie sind im Freilichtmuseum in Groß Raden bei Sternberg nachgestaltet.

Die Wände der Flechtwandhäuser wurden aus einem Ständerwerk errichtet. Dieses wurde mit Zweigen ausgeflochten und mit Lehm verschmiert. Das Dach war mit Stroh oder Rohr gedeckt. Die Backöfen bestanden aus einer Kuppel aus Weidengeflecht mit Lehmbewurf. Der Lehm trocknete an der Luft und durch vorsichtiges Heizen langsam aus. Das Flechtwerk im Innern verbrannte. Die aus Lehm bestehende Kuppel verziegelte und blieb bestehen. Die Backöfen standen wegen der Brandgefahr im sicheren Abstand von den Wohnhäusern. Solche ähnlichen Backhäuser wurden noch im 19. Jahrhundert gebaut. Ich kenne sie auch noch aus meiner Kindheit. Sie standen zum Beispiel auf den Bauernhöfen von Uplegger und Kruth. Bekannt ist auch, dass die Slawen über Mahlhäuser, Schmiede und sogar über Dampfbäder (Saunen) verfügten.

Die Auffassung, dass die Slawen unfähig wären, die gesellschaftliche Entwicklung im Mittelalter voranzubringen, kann als überwunden betrachtet werden. Berichte von Reisenden und archäologische Funde über den Burgenbau, den Handel, das Handwerk und die Landwirtschaft legen ein anderes Zeugnis ab. Die Slawen hatten ein Entwicklungsniveau erreicht, dass die Voraussetzung für die Herausbildung eines neuen Stammes der Mecklenburger durch ihre Verschmelzung mit den deutschen Kolonisatoren war.

aus Raducle [53] Ausgabe 11 von Juli 2010

Artikel aktualisiert am 03.04.2024