1874: Einführung von Gemeindeordnungen in Reddelich und Brodhagen

Mit Einführung der Gemeindeordnungen am 1. Juli 1874, wurden Reddelich, Dorf Brodhagen wie auch Hof Brodhagen eigenständige Gemeinden. Die Einführung der Gemeindeordnungen waren Vorraussetzung für die Vererbpachtung der Bauernhufen. Die Gemeindeschulzen wurden weiterhin vom Domanialamt eingesetzt.

Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft und einer kurzen Phase der Neuorientierung in den Dörfern, überschlugen sich die Ereignisse förmlich – zumindest für Mecklenburgische Verhältnisse. Die Menschen waren zunehmend nicht mehr bereit, sich alles stoisch gefallen zu lassen. Immer mehr fanden den Mut, dem rückständigen Landleben in Mecklenburg den Rücken zu kehren und ihr Glück in Städten oder sogar im Ausland zu suchen. Der Herzog stand mal wieder unter Handlungsdruck. Eingezwängt zwischen dem meist erzkonservativen Adel und seinen oft progressiven Beamten und dem Druck seiner politischen Verbündeteten war er zu wirtschaftlichem Erfolg gezwungen. Er konnte gar nicht anders, als seinen Untertanen im Domanium Zugeständnisse zu machen. Nur dort hatte er die uneingeschränkte Verfügungsgewalt. Dort fiel die Entscheidung, ob er mit seiner rückständigen Landwirtschaft in die erneute Pleite schlitterte oder es für seine Herrschaft eine Zukunft gab. Dazu erschien ihm die Vererbpachtung seiner Bauernhöfe am geeignetsten. Durch dieses, heute verbotenes Konstrukt verschaffte er seinen bäuerlichen Pächtern Eigentum und kassierte noch Zinsen von den Höfen.

Gemeindegründung und Vererbpachtung bedingen einander und müssen daher im Zusammenhang betrachtet werden.

Es wurde festgestellt, dass die Feldmark reguliert war, das heißt, die Gemeindefeldmark war gleich mit der Ortsfeldmark. Alle herrschaftlichen Hilfen fielen weg, so die Zuschüsse für das Armenwesen, für das Amtsarztgehalt, für das Feuerlöschwesen und für die Baulast am Schulgebäude. Der Schulze musste einen Eid ablegen und wurde auf seinen erweiterten Wirkungskreis hingewiesen. Die unten stehenden Mitglieder der Dorfversammlung wurden ernannt und für die gewissenhafte Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet.

Protokollabschrift für Reddelich:

Angeschlossen übersenden wir das Protokoll, zu dem die Einführung der Gemeindeordnung für Dorf Reddelich geschehen ist, und berichten noch ehrerbietigst gehorsamst:
Die Gemeindefeldmark umfasst die Dorfschaft Reddelich und ist wegen der dahin gehörigen Forstreservate vorbehalten, dieserhalb später vielleicht eine anderweitige Abgrenzung des Gemeindebezirkes vorzunehmen. Die Gemeindeordnung tritt mit dem 1. Juli in Kraft. Von diesem 1. Juli an fallen alle herrschaftliche Hilfen, die seither für Reddelich gewährt wurden, fort, insbesondere:

  1. im Armenwesen aus der Amtskasse der ordentliche Zuschuss mit 31 , das Amtsarztgehalt mit 7,11 , das Amtschirurgen mit 5,28
  2. im Feuerlöschwesen die Gewährung von 14 % des rohen Baumaterials für Bauten beim Spritzenhause zu Steffenshagen aus der Amtsbaukasse
  3. im Schulwesen die Baulast für die Schulgebäude

Reddelich gehört zum Wittenbecker Hebammendistrict, da alle Ortschaften dieses Districtes jetzt mit der Gemeindeordnung bewidmet sind, so wird für die Hebamme zu Wittenbeck hinfort kein Holz aus der Forst mehr abgegeben

Doberan, den 30. Juni 1874 Großherzogliche Beamte
[4 Unterschriften

Protocollum
Gehalten Amt Doberan am 23. Juni 1874 unter Leitung des Herrn Amtmann Reichhoff, vom Unterschriebenen

Anwesend aus Reddelich

  1. der Schulze Joachim Uplegger [Hufe] Nr. II
  2. Der Erbpächter Johann Baade [Hufe] Nr. IX und
  3. der Erbpächter Johann Frahm [Hufe] Nr. VII

Festlegungen:

  1. Anläßlich der Einführung der Gemeindeordnung für Dorf Reddelich, welche auf den 1 .Juli dieses Jahres bestimmt ist, wurde zunächst der Schulze Uplegger auf seinen geleisteten Eid und dessen Geltung für die nunmehrige Erweiterung seines Wirkungskreises zurückgeführt. Es werden sodann die weiter oben Genannten als Schöffen ernannt, Baade auf 6 Jahre und Frahm auf 3 Jahre und auf die gewissenhafte Erfüllung ihres Berufes verpflichtet.
  2. Der Gemeindevorstand (Schulze) wurde verpflichtet, von jeder Erledigung einer Stelle in seiner Mitte dem Amte sofort Anzeige zu machen bei eintretenden Personalveränderungen die neu hinzutretenden Persönlichkeiten alsbald in der obigen Reihenfolge ihren Platz anzuweisen.
  3. Dem Schulzen ist ein gedrucktes Exemplar der revidierten Gemeinde -, Armen und Schulverordnung vom 29. Juni 1869 behändigt, desgleichen das vom Hohen Ministerio genehmigte Gemeindestatut, beide sind verlesen und verdeutlicht.
  4. Der Schulze Uplegger ist beauftragt, die Büdner und Häusler zu Reddelich zusammenzuberufen und ersten 2 und letztem einen Vertreter zur Dorfversammlung wählen zu lassen, auch das Ergebnis der Wahl binnen 14 Tagen für uns zu zeigen.
  5. Die Ortschaft hat sich einen Armenchirurgen sofort auf eigene Hand zu nehmen und den Betreffenden binnen 4 Wochen hierher anzumelden, den hiesigen Amtsarzt Sanitätsrat Dr. Dochereiner muss dieselbe bis zu einer vorauszuschickenden Kündigung als ihre Amtsarzt auf.

Stand der Hufenverpachtung in Reddelich im Jahr 1874:

  • Hufe I: Johann Joachim Waack erhielt einen Erbpachtvertrag.
  • Hufe II: (?) Uplegger erhielt einen Erbpachtvertrag
  • Hufe III: Der Hauswirt erhielt nur einen Zeitpachtvertrag, weil die Erbin nicht volljährig war und der Hof von einem Interimswirt bewirtschaftet wurde.
  • Hufe IV: Wilhelm Baade erhielt einen Erbpachtvertrag.
  • Hufe V: Johann Kruth war 1874 unverheiratet und kinderlos. (Erst mit der Geburt seines Sohnes Wilhelm im Jahre 1881 erhielt er einen Erbpachtvertrag.)
  • Hufe VI: Johann Westendorf erhielt einen Erbpachtvertrag.
  • Hufe VII: Johann Frahm erhielt einen Erbpachtvertrag.
  • Hufe VIII: Die Witwe Sophie Baade erhielt 1874 einen Zeitpachtvertrag. (Erst ihr Sohn Joachim bekommt mit seiner Volljährigkeit 1882 einen Erbpachtkontrakt.)
  • Hufe IX: Johann Joachim Waack erhielt einen Erbpachtvertrag.

Gründung der Gemeinde Dorf Brodhagen

Auf der Gründungsversammlung waren anwesend: Schulze Johann Bull, Hauswirt Joachim Pentzin, Erbpächter Peter Pentzin, Schullehrer Johann Krambeer, Büdner und Schmied Theodor Wigers und Häusler und Schneider Johann Bull.

Gründung der selbständigen Gemeinde Hof Brodhagen

Dies war nichts ungewöhnliches, sondern gängige Praxis im Domanium. Nach damaligem Ständewesen war es unter der Würde eines Gutspächters, sich der Dorfgemeinde unterzuordnen, oder sich als Gemeindeoberhaupt mit den Belangen der Dorfschaft zu befassen.

Im Anschreiben zum Protokoll der Einführung der Gemeindeordnung für Hof Brodhagen heißt es:

Vom 1 Juli anfallen alle herrschaftlichen Hilfen, die seither für Hof Brodhagen gewährt wurden, fort, insbesondere und zwar zusammen mit Dorf Brodhagen:

  1. im Armenwesen aus der Amtskasse der ordentliche Zuschuss mit 14 das Amtsarztgehalt mit 3,46
  2. das Amtschirurgengehalt mit 3,20
  3. im Feuerlöschwesen die Gewährung von 8/100 des rohen Baumaterials bei Bauten am Niedersteffenshagener Spritzenhause aus der Amtskasse
  4. im Schulwesen die Baulast zum Anteil des Hofes an den Schulgebäuden zu Dorf Brodhagen.

Hof Brodhagen gehört zum Wittenbecker Hebammenbezirk. Da für alle Ortschaften des Distriktes die Gemeindeordnung eingeführt ist, so erhält die Hebamme zu Wittenbeck hinfort kein Holz mehr aus der Forst.

Protokoll
gehalten Amt Doberan, den 29. Juni 1874 unter Leitung des Herrn Amtsmann Reichhoff vom Unterschriebenen

Teilnehmer.
Der Gutspächter Seer und der zukünftige Ortsvorsteher von Brodhagen um die näheren Bestimmungen in Betreff der demnächstigen Konstituierung der genannten Ortschaft als selbständige Gemeinde in Grundlage der Gemeindeordnung vom 29. Juni 1869 entgegenzunehmen

Festlegungen:

  1. Die Gemeindefeldmark umfasst das Pachtprundstück Brodhagen, es bleibt aber Vorbehalten den Gemeindebezirk später anderweitig festzulegen
  2. Dem Pächter bleibt es überlassen alle Gemeindelasten selbst zu Tragen oder nach Maßgabe der Gemeindenordnung die übrigen Mitglieder heranzuziehen. Ihm obliegt es, sämtliche aus der Gemeindeordnung entspringenden Geschäfte zu tätigen.
  3. Für einen Armenamtsarzt ist gemeinsam mit Dorf Brodhagen ein Honorar zu zahlen. Ein Wundarzt ist zu bestellen.
  4. Es bleiben auf weiteres die übrigen Verbände § 6 der Gemeindeordnung, und zwar in bisheriger Weise von Bestand wie Schul-, Hebammen-, Spritzen- etc. Verbände.
  5. Mit der Gemeinde Dorf Brodhagen ist die Hebamme mit Feuerung zu versorgen und zwar zum 9/100 des Wertes von 14,32.
  6. Grund des hiesigen Kontracts behalten und mit dem Quartal 1/4 des jährlichen Gehalts von 7, 11 und 7 Fuhrentschädigung honorieren.
  7. Die kontractlich ausgemachte Kündigungsfrist ist ein halbjährige.
  8. Entlässt künftig die Gemeinde einen Arzt, so muss die Meldung, wer wieder als solchen angenommen sei, binnen 14 Tagen hierher geschehen.
  9. Die bestehenden Hebammen- Spritzen- etc. Verbände bleiben für die Ortschaft bei Bestand, nur werden künftig zu der auf dieselbe fallenden Quote die herrschaftlicherseits bisher etwa gewährten Hilfen einbehalten.
  10. So hat die Gemeinde zu ihren Feuerküben etc. auch das rohe Material selbst zu beschaffen, desgleichen zum Spritzenhause.
  11. Der Hebamme zu Wittenbeck hat der entsprechende Distrikt in Zukunft das bisher gewährte Feuerungsdeputat zu geben oder dafür an Geld 14, 32 wovon Reddelich 18% gleich 2, 32 zahlen müsste.
  12. Aus der Amtsarmenkasse tritt Reddelich zwar mit dem 1. Juli dieses Jahres aus; eine Feststellung der betreffenden Verhältnisse wird demnächst durch eine aufzumachende Liquidation geschehen müssen.
  13. Es ist noch besonders auf den Inhalt der Gemeindeordnung sub. 8b und den § 1 Nr. 2 der Armenordnung hingewiesen und derselbe erläutert. Glaubt die Gemeinde, einen ihrer Armen auf gemeinschaftliche Kosten der gesamten Amtsortschaften nach Maßgabe des § 1 sub. 2 der Armenordnung verpflegen lassen zu können, so hat sie sofort den betreffenden Armen bei Anschluss einer genügenden Armuts- und Orts- Arzt- Attestes beim hiesigen Amte anzumelden. Der…..bewilligender oder abschlägiger Bescheid wird ihr von hier aus darauf zugefertigt werden. Die laufenden Kosten sind vorerst aus der Gemeindekasse zu bezahlen und erst am Schlüsse des Jahrgangs bei Anschluss des Genehmigungsscheins spätestens am 15: Juli, bei hiesigem Amte zu liquidieren.
  14. Der Schulze ist noch besonders auf die ihm als Ortsvorsteher nach § 5 sub. 2 der Gemeindeordnung abliegenden Pflichten, namentlich in Betreff der Ausstellung von Melde-und sonstigen Scheinen aufmerksam gemacht. Auch ist binnen 14 Tagen das Gemeindebuch und das Gemeindrechnungsbuch hierher einzureichen, um, wie vorgeschrieben, hier mit Seitenzahlen versehen zu werden.
  15. Der Gemeindevorstand hat ein Gemeindesiegel zu führen, nach Maßgabe der betreffenden hohen Verordnung.
  16. Es ist daraufhingewiesen, dass generelle obrigkeitliche Erlasse an die Gemeindevorsteher im öffentlichen Anzeiger publiziert werden würden.
  17. Wegen des Forstreservats ist eröffnet, dass die nähere Feststellung der Grenzen des Gemeindbezirkes rücksichtlich der Forstgrundstücke einstweilen Vorbehalten bleibe abschriftliche Zufertigung dieses Protokolls ist zugesichert, vorgelesen, genehmigt, geschlossen.

Ad acta
Schwerin 13. Juli 1874

In den Gemeindeordnungen wurde auch ein Statut über Altenteiler und Abfindungen aus den Bauernhöfen (Hufen) verankert. Darin heißt es unter anderem:

Der überlebende Ehegatte des Bauerngutsbesitzes erhält als Altenteil:

  • Eine eigene Wohnung;
  • den Bedarf an Bettstroh;
  • an Ländereien: Gartenland gedüngt: 25 Quadratruten, Kartoffeln: 60 Quadratruten, Lein: 16 Quadratruten;
  • die Möglichkeit zur Haltung einer Kuh und 2 Schafe,
  • jährlich ein Pölk der Frühjahrszucht, Streustroh;
  • seinen Bedarf an Feuerung frei zur Stelle;
  • an Korn vierteljährlich: 130 Pfund Roggen, 30 Pfund Weizen, 30 Pfund Gerste, und 60 Pfund Hafer;
  • die üblichen Fuhren zur Kirche, zum Prediger und zum Arzt.
  • Als Ersatz für Naturalaltenteile sind vierteljährlich eine Altenteilsrente von 300 Mark per Annum auszuzahlen.
  • Die Witwe verliert das Recht bei Wiederverheiratung, es sei denn der Besitz stammt von ihr.
  • Abfindung bei Erbschaften: Für alle Miterben die Hälfte der Gutmasse/Bauerngut mit Zubehör. Bei einem Miterben außer dem Gutnachfolger eine Abfindung in Höhe eines Drittels.
Artikel aktualisiert am 06.04.2023