Über die Topografie Reddelichs und Brodhagen

Die Wasserführung in der Gemeindeflur

Die Moehlenbäk, die vom Hundehäger Wald kommend Reddelich und Brodhagen durchfließt, ist kein Relikt der letzten Eiszeit, sondern ein Kunstprodukt der letzten 200 Jahre. Im Kartenwerk aus dem ausgehenden 18. Jahrhunderts, die ersten exakt vermessenen Karten Mecklenburgs, ist kein ganzjährig wasserführender Bach verzeichnet. Wenn es einen solchen damals gegeben hätte, die Kartografen hätten ihn nicht ignoriert. Erstmalig erschien die Moehlenbäk in einer Militärkarte von 1894. Auf der anderen Seite wissen wir, dass die Slawen, also auch die Raducler, an offenen Gewässern siedelten. Was also fanden die ersten Missionare, die sich bei unseren Vorfahren vorstellten, in Raducle vor?

Die Höhendifferenzen von bis zu achtzig Metern auf relativ kleiner Fläche sorgte auch damals für temporär fließendes Wasser – keine Frage. Dieses wird sich in den tiefer gelegenen Flächen, in denen die heutige Vorflut verläuft, gesammelt haben. Diese Feuchtniederungen stellen, naturbelassen, eine Sumpflandschaft dar, die bei viel Regen überschwemmt wird und in der sich bei Trockenheit das Wasser in einzelne Sölle zurückzieht. Wenn dies lange genug und ohne menschlichen Eingriff passiert, entstehen Moore, deren organische Substanz schließlich vertorft.

Einen Hinweis, dass die Reddelicher im 19. Jahrhundert – und davor – Torf gestochen hatten, geben Deputatlisten für Altenteiler und Gesinde. Die dort aufgeführten Torfsoden zur Feuerung werden unsere Vorfahren nicht aus Rethwisch oder von noch weiter herangekarrt, geschweige denn für Geld erworben haben.

Ob und wie die einzelnen Feuchtniederungen miteinander verbunden waren und extremes Hochwasser in die Ostsee ablaufen konnte, wissen wir nicht. Der gewundene, und umwegreiche Weg des heutigen Baches spricht dafür, zumindest bis zum Brodhäger Kalkberg. Ab dort ist der Charakter einer geplant gebauten Vorflut offensichtlich. Eine wasserbauliche Besonderheit ist die Wasserweiche an der Nord-West-Grenze der Brodhäger Gemarkung. Ein Teil des aus Reddelich kommenden Wassers fließt über Vorder und Hinter Bollhagen in Fulgen in die Ostsee. Der andere Teil, derzeit die Hauptmenge, nimmt den Umweg über das Bollhagener Fließ nach Doberan, um dort in das Mühlenfließ zu gelangen. Dieses mündet an der Jemnitzschleuse zwischen Heiligedamm und Börgerende in die Ostsee.


Die Winnebäk, der Grenzbach zu Stülow, dürfte für unsere Vorfahren wirtschaftlich genauso unbedeutend gewesen sein wie für uns.

Aus der Geschichte Mecklenburgs wissen wir, dass im 19. Jahrhundert begonnen wurde, Wiesen und Felder zu meliorieren um eine Ertragssteigerung zu erzielen. Wir wissen zwar nichts über Art und Umfang solcher Maßnahmen in der Gemeinde, Zufallsfunde bei Schachtarbeiten bestätigen jedoch derartige Arbeiten in der Feldmark. Legendär sind in dem Zusammenhang Geschichten von Landwirten, deren Quintessenz unisono lautet: … Bei unsachgemäß ausgeführten Arbeiten zur Melioration wurde genau das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich haben wollte. Durch Zerstörung alter Drainagen, oder wenn man diese nicht fachgerecht in die neuen Anlagen eingebunden hat, wurden aus Entwässerungsprojekten schnell mal Bewässerungsanlagen …

Für unsere Moehlenbäk bedeutet dies: Die heutige Vorflut entlang der Nordkante des Hundehäger Waldes, quasi ihre Quelle, ist augenscheinlich im 19. Jahrhundert neu gebaut worden. Die damaligen Meliorationsmaßnahmen in der Flur sorgten wiederum für einen ganzjährigen Wasserfluss. Inwieweit in den geschaffenen Bachlauf bestehende Gräben eingebunden wurden, lässt sich mit Bestimmtheit wohl nicht mehr feststellen.

Kein Zufall ist der, oft zu beobachtende, Bewuchs Mecklenburger Bachufer mit Erlen. Diese schnell wachsenden, staunässetoleranten Bäume waren ein wichtiger Brennholzlieferant für die Bauern, die ja in der Regel keinen Wald in Pacht hatten, oder gar besaßen. Das Praktische an so einer Erle ist: Sie ist kaum totzukriegen. Die aus dem frischen Stubben treibenden Seitentriebe wachsen binnen weniger Jahre zur nächsten Generation Brennholz heran. Was Ökologen von heute in Verzückung versetzt, nahmen die Bauern der Vergangenheit gerne nebenher mit. Erlen bieten gratis eine effiziente Uferbefestigung, sind ein wirkungsvoller Windschutz, spenden dem Weidevieh Schatten und, und …

Die Wege in der Gemeinde

Über lange Zeit war für Reddelich eine alte Handels-"Straße" der bedeutendste Weg. Die Route entsprach in etwa dem aus Jennewitz kommenden Landweg, der Alten Dorfstraße bis zur Bäckerkreuzung und dann, leicht rechts abbiegend, in Richtung Stülow. Im Ortszentrum von Reddelich lässt sich die genaue Wegführung heute nicht mehr nachvollziehen. Südlich der B 105 wird diese von den Bahngleisen und der Straße nach Glashagen unterbrochen, ist aber noch zu erkennen. Ab der Büdnerei 26 führt ein Rad- und Wanderweg nach Stülow. An der Gemarkungsgrenze zu Stülow zeugt noch heute eine augenscheinlich sehr alte Steinbrücke von der früheren Bedeutung des Weges. Diese Strecke wurde auch in das Projekt Hanseatenweg aufgenommen. Darüber hinaus kreuzten in Reddelich Wege nach Glashagen und Steffenshagen diese Route.

Nach den verwaltungstechnischen Reformen in der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden zunehmend schnelle Direktverbindungen zwischen den Ämtern und der Landeshauptstadt Schwerin notwendig. Als sogenannte Communicationswege wurden solche für Postwagen und Meldereiter angelegt. Diese Routen bilden im Großen und Ganzen das heutige Bundesstraßennetz. Die Verbindung zwischen Wismar und Rostock führte zwar durch die Reddelicher Feldmark, jedoch südlich an der Ortslage vorbei. Den Reddelicher Bauern half dieser Weg zunächst recht wenig. Doberan und Kröpelin waren nicht ihre vorrangigen Ziele. Wenn sie Reddelicher Territorium verließen, dann hauptsächlich um ihren Verpflichtungen zu Hand- und Spanndiensten auf den umliegenden Gütern nachzukommen oder ihr Korn zum Mahlen in eine der umliegenden Mühlen zu bringen.

Erst nach ihrem Ausbau zu einer Chaussee ab 1842 ist die heutige B 105 zur bedeutendsten Verkehrsader der Reddelicher geworden. Das Dorf wurde danach buchstäblich an die Chaussee herangebaut und später auch darüber hinaus erweitert. Der Wegfall der Frondienste und der Zwang zum Geldverdienen sorgten für völlig neue Abläufe auch auf den Reddelicher Bauernhöfen. Das Ende der mecklenburgischen Beschaulichkeit zu Zeiten der Leibeigenschaft, mit den klaren Weisungen und festen Versorgungsansprüchen, dürften wohl vielen wie ein Stich ins Wespennest erschienen sein. Da kam die befestigte Chaussee, wie die Kunststraßen nun genannt wurde, nicht nur Fernreisenden gerade Recht. Die Märkte von Doberan und Kröpelin waren fortan die Orte, an dem die Reddelicher ihre Erzeugnisse zu Geld machen mussten.

Ein starkes Indiz für den Bedeutungsverlust der alten Handelsstraße ist der Umzug des Schmiedes und Gastwirtes Rosz im Jahr 1889. Bis dahin betrieb er seine Schmiede und Gastwirtschaft – eine früher nicht ungewöhnliche Kombination – in der Büdnerei 3/4 am Weg Richtung Jennewitz. 1889 kaufte er das ehemalige Chausseewärterhaus, geführt als Häuslerei 20, um seine Schmiede und Gastwirtschaft dort weiter zu betreiben. So etwas tut ein Mecklenburger nicht ohne triftigen Grund! Dieser dürfte hauptsächlich in der ausbleibenden Kundschaft, am Dorfrand an einem mittlerweile wenig befahrenen Weg, gelegen haben.

Ein weiterer, für die Reddelicher Bauern weitgehend bedeutungsloser Weg aus dieser Zeit war der sogenannte Schwarze Weg. Das war eine Direktverbindung zwischen dem Forsthof in Hundehagen und dem Retschower Forst. Dieser Weg wurde jedoch um die Jahrtausendwende eingezogen. Zwischen den Bahngleisen und dem Retschower Wald wächst heute eine der längsten Wildhecke der Region, auf der Fläche des ehemaligen Weges. Nördlich der B 105 ist eine, nur mit geländegängigen Fahrzeugen befahrbare, Zufahrt in den Hundehäger Wald übrig geblieben.

Was ich hier so mit leichter Feder als Straßen und Wege bezeichnet habe, dürfte den heutigen Reisenden die Haare zu Berge stehen lassen. Bevor ich zu spekulieren beginne, lasse ich lieber einen zeitgenössischen Autor des beginnenden 19. Jahrhunderts zu Wort kommen:

Im 19. Jahrhundert haben sowohl Reddelich wie auch Brodhagen einen bedeutenden Wandel in der Bedeutung der Wegeführung erfahren. Mit dem Bau des Bahnhofs bekam Reddelich eine regionale Bedeutung als zentraler Anlaufpunkt zur Güterverladung und für den Reiseverkehr der Bewohner der umliegenden Dörfer. Mit diesen hatte Reddelich mittlerweile direkte Wegverbindungen.

Eine völlig veränderte Wegeführung spiegelte in Brodhagen die Veränderungen im 19. Jahrhundert wieder. Ein paar Gehöfte in loser Bebauung an einer Wegschleife von Doberan, ohne Direktverbindung zu seinen Nachbarn gab es um 1790. Diese führte als Abzweig des Weges Doberan – Vorder Bollhagen in den Ort und auf Höhe des Abzweiges nach Steffenshagen, den es damals noch nicht gab, nach links durch den Kellerswald wieder nach Doberan. Die Streckenführung bis zur Dorfmitte dürfte in etwa der heutigen entsprochen haben. Den Abschnitt von der Dorfmitte an der Domänengrenze entlang durch den Kellerswald nach Doberan gibt es heute nicht mehr. Eine Direktverbindung zwischen Brodhagen und Reddelich hat es im ausgehenden 18. Jahrhundert augenscheinlich genauso wenig gegeben, wie nach Steffenshagen. Lediglich der gegenwärtig, durch eine fehlende Bachquerung, unpassierbare Weg nach Vorder Bollhagen ist als Direktverbindung nach Hinter Bollhagen eingezeichnet und kreuzte den noch heute bestehenden Weg zwischen Steffenshagen und Vorder Bollhagen.

Um 1900 war Brodhagen in die drei Teile angelegt, die wir heute kennen: das Gut, das Dorf und die Kalkbrennerei. Der Weg zur heutigen B 105 war angelegt wie auch der Wanderweg entlang des Bachlaufes, eine direkte Verbindung mit Reddelich, die damals auch mit Pferdefuhrwerken befahren wurde. Der zeitgenössische Weg nach Steffenshagen verlief allerdings von der Büdnerei "Matschke" nach Ober-Steffenshagen und existiert heute nicht mehr. Die derzeitige Verbindung beider Dörfer ist zu LPG-Zeiten angelegt worden.

Eine Wegebezeichnung, die man in vielen Orten ganz Deutschlands findet, ist der Kirchsteig. Der regelmäßige Kirchgang war für unsere Vorfahren ein unbedingtes Muss. Wer dabei an welchen Gott glaubte, war, wie heute auch, eine ganz persönliche, intime Angelegenheit. Mindestens eben so wichtig war das Sehen und Gesehenwerden als sozialer Kontakt. Nun hatte aber nicht jedes Dorf eine Kirche und die Entfernungen im Kirchspiel waren nicht unbeträchtlich. Bequem waren unsere Vorfahren mindestens genauso wie wir – was Wunder bei nahezu identischer genetischer Ausstattung. So wie wir heute dazu neigen, für eine Abkürzung von vier Metern einen Trampelpfad über jede Rasenfläche anzulegen, nutzten die Kirchgänger jede sich bietende Abkürzung. Für Reddelich bedeutete dies, dass die Stülower auf ihrem Weg zur Steffenshäger Kirche Reddelich links liegen ließen. Ob das die Basis für das geflügelte Wort: etwas oder jemanden "links liegen lassen" war, lasse ich mal lieber unbeantwortet. Der gerade Pfad von der Wegbiegung der früheren Haupt-"Straße" hinter der Retschower Gemarkungsgrenze, in nahezu gerader Linie auf den Steffenshäger Weg an der Nordwestgrenze Reddelichs, verfestigte sich über die vielen Jahre seiner Nutzung zum Kirchsteig. Während andernorts Kirchsteige als öffentliche Wege Einzug in die Grundbücher hielten, erkennt man den Reddelicher Kirchsteig in der aktuellen Flurkarte lediglich als Flurstücksgrenzen mitten im Acker. Auch für Brodhagen ist auf der obenstehenden Flurkarte von 1872 ein Kirchsteig nach Steffenshagen eingezeichnet.

Fazit

Wir Reddelicher und Brodhäger freuen uns darüber, nah an der Natur zu leben. Rein wissenschaftlich betrachtet leben wir allerdings in einer Parklandschaft. Im Gemeindegebiet gibt es keinen Quadratmeter Boden, der noch nicht von Menschenhand bewegt wurde. Leider bleibt zu konstatieren, dass bei der Gestaltung unseres Parks zunehmend Menschen das Sagen haben, deren Lebensmittelpunkt nicht in Reddelich oder Brodhagen liegt.

Ob wir nun in einer Parklandschaft leben oder nicht, mag eine akademische Frage sein. Niemand ist gezwungen, seine Umwelt wissenschaftlich zu betrachten. Veränderung war immer und wird immer sein. Das wussten die Menschen vor 2000 Jahren auch schon. Mit der genial einfachen Formel: Panta rhei, alles fließt, beschrieben altgriechische Philosophen die Welt. Der Rest ist Ansichtssache.

Unsere Vorfahren sind, bis in das 19. Jahrhundert hinein, noch davon ausgegangen, dass die Veränderungen in der Umwelt gemächlich fließen. Vielleicht haben sie es deshalb nicht für wichtig erachtet, die Topografie Reddelichs und Brodhagen zu dokumentieren. Die exponentiellen Veränderungen der Neuzeit konnte niemand vorhersagen. Dabei leben wir in Reddelich und Brodhagen noch recht beschaulich. Nichts deutet darauf hin, dass hier in absehbarer Zeit kilometertiefe Löcher in die Erde gebuddelt werden. Unwahrscheinlich ist auch, dass in unserer Heimat nukleare Träume von billiger Energie – im wahrsten Sinne des Wortes – zerplatzen und die Region auf lange Zeit unbewohnbar machen. Selbst bei Anstieg der Meerwasserspiegel bleibt uns reichlich Zeit zu reagieren.

So wollen wir es genießen, in einer der schönsten Regionen der Welt zu leben und bei Eingriffen in die bestehende Topografie immer das erforderliche Augenmaß behalten.

Anhang

Artikel aktualisiert am 13.03.2024